Pauline de Bok

Zur Zeit lese ich u. a. das Buch der Niederländerin Pauline de Bok „Blankow: oder das Verlangen nach Heimat.“

Der Gattungsbegriff fällt schwer: Kein Roman, kein Sachbuch, eher ist ein Tatsachenbericht darüber, wie sich die Autorin / Erzählerin auf einem Gehöft im Mecklenburgischen niederlässt.

Blankow – das ist ein einsamer und abgewirtschafteter Bauernhof in der Nähe des Mürzinsees. Die Orts- und Personenangaben wurden von der Autorin abgeändert: „Die Personen heißen in Wirklichkeit anders. Sie sind Figuren im großen Erzählwerk der deutschen Geschichte.“ In den verfallenen Gebäuden und im Boden findet die Erzählerin Reste des Lebens früherer Bewohner wieder.

Sie findet Briefe einstiger Bewohner, unterhält sich mit den Einheimischen, rekonstruiert die Geschichte des fast 200 Jahre alten Vorwerks und beginnt, Archiven und Dokumenten Lebensgeschichten aus der Zeit zwischen 1827 und der Gegenwart Schicht für Schicht freizulegen – bis zum Ende der DDR. Immer mit dabei ihr Hund.

Pauline de Bok erzählt dabei nicht nur die Geschichte dieses Hauses und seiner Region, sondern die Geschichte eines Landes. „Es geht mir nicht um die Individuen, doch zugleich bin ich davon überzeugt, dass sich die große Historie am besten anhand von Einzelleben erzählen lässt.“ Auf einfühlsame, ruhige und leise Weise gibt die Autorin einer Gegend und ihren Menschen eine Identität und erschreibt sich gleichzeitig eine eigene Heimat sowie eine eigene Geschichte. Erinnerungsbruchstücke, Legenden und Fakten zeigen, wie das Verlangen nach Heimat und der Verlust von Heimat Lebensgeschichten geprägt  und Geschichte geschrieben hat.

Auf zwei Erzählebenen nimmt Pauline de Bok den Leser mit in die Entdeckung der Geschichte Blankows: Sie beschreibt auf der einen ihre tägliche Ausflüge, Streifzüge und Begegnungen in der Gegenwart mit präzisen Beschreibungen der geschundenen und exploitierten Natur und auf der anderen lässt sie uns mit eintauchen in die verschiedenen Sedimentschichten der Vergangenheit.

„Es geht mir vor allem darum, wie Menschen, die eines Tages irgendwo auf der Welt geboren werden, sich mit dieser Gebundenheit an Zeit, Ort, Umwelt, Familie und Genotyp durchs Leben schlagen. Und wie jeder für sich keine andere Wahl hat, als sich mit seinem Schicksal zu versöhnen.“ Das genau ist der Anspruch großer Literatur.

Pauline de Bok ist ein wunderbares, einzigartiges Buch über Deutschland gelungen, ein Buch, voller Geschichte und erschütternder Lebensläufe. Es ist auch ein selten ruhiges Buch, ähnlich jener stillen Tage mit Wetterlagen ohne jeden Wind – die Zeit scheint für einen Moment stillzustehen.

60 Jahre DDR

Was wäre wenn… Aus dem ZDF Morgenmagazin vom 07. Oktober 2009.

Die aktuelle Kamera berichtet über Angela Merkel, Robotron, das „PionierVZ“ (sww.pioniervz.ddr), den Karl-Marx-Orden und den baldigen EU-Beitritt.

Schöne Jugend

In unregelmäßigen Abständen beabsichtige ich hier Geschichten aus meiner Ossi-Jugend preiszugeben.

Jungpionier, Thälmannpionier und FDJ’ler – ich habe den gesammten Werdegang erleben dürfen und eine durchaus schöne Jugend erlebt.

Zum Thema Schöne Jugend kam mir direkt eben das gleichnamige Gedicht von Gottfried Benn in den Sinn:

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die anderen lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!

welches im Übrigen das Lieblings-Liebesgedicht meiner Frau ist.

Grenzübertritt

In den 70er und 80er Jahren bin ich öfters mit dem Auto in die DDR nach Berlin oder Leipzig gefahren. Die Prozedur an der deutsch-deutschen Grenze war jedesmal ein abenteuerliches und gruseliges Erlebnis.

Die Warteschlange der Autos war lang. Ein Grenzübergang konnte Stunden dauern. Zunächst einmal mussten die Ausweise / Pässe abgegeben werden. Sie verschwanden im Inneren einer Baracke und kamen meist erst einige Hundert Meter weiter an einer anderen Baracke wieder zum Vorschein. Während der Zeit konnte man den „Zwangsumtausch“ von DM in DDR-Mark erledigen – auf diese Weise kamen Westdevisen als Zwangsabgabe ins DDR-Land.

Das Auto wurde derweilen dabei komplett untersucht.  Alle musten aussteigen. Mit Spiegeln wurde unter den Wagen geschaut. Motorhaube und Kofferraum waren zu öffnen. Alles musste ausgepackt werden. In sämtlichen Nischen im Inneren des Autos wurde nachgeschaut, ob nicht verbotene Waren, Personen oder Publikation versteckt waren. Tageszeitungen oder „Der Spiegel“ usw. wurde sofort konfisziert, dito Schallplatten oder Kassetten (für den „Transit“ nach Berlin galten etwas gelockerte Regeln – dafür durfte man nur an bestimmten Stellen zum Tanken oder Rasten anhalten und die marode Autobahn auf keinen Fall verlassen).

Der Ton der Grenzsoldaten / Volkspolizisten (VoPos) war barsch und ruppig. Von Freundlichkeit keine Spur. Wir wurden auch faktisch wie „Klassenfeinde“ behandelt. Die besseren Autos, die modernere Kleidung usw. haben vermutlich zu einer Neidorgie bei den „Genossen“ geführt. Wehe, etwas entsprach nicht den Vorschriften! Man wähnte sich als „Wessi“ immer mit einem Bein im Gefängnis.

Auf der Rückreise war der Aufwand noch größer. Die DDR-Führung hatte ja berechtigte Sorge, dass die meisten Bürger gerne „rübermachen“ würden und ahndete dieses Vergehen der „Republikflucht“ mit drastischen Strafen. Die Grenzübergänge waren eine Möglichkeit, diesem Lande zu entkommen. Hunderte DDR-Bürger haben bei dem Versuch des illegalen Grenzübertritts über die „grüne Grenze“ ihr Leben gelassen.

Das Verhalten der „Grenzer“ grenzte oft an reine Schikane, das Einschüchterungspotenzial war groß, so dass kaum jemand wirklich Lust hatte, in dieses Land zu fahren, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Vermutlich hat das mein negatives Verhältnis besonders zum sächsischen Dialekt bis heute nachhaltig getrübt.

Nach der Wende habe ich mich immer gefragt, was wohl aus diesen Tausenden aggressiven, muffelnden Grenzern und VoPos geworden ist? Arbeiten die jetzt alle bei der Deutschen Bahn AG?

Was für ein Scheißstaat war das! Und wie froh bin, dass wir dieses Stadium des „real existierenden Sozialismus“ überwunden haben!

Mittwoch fahren wir nach Rügen. Wahrscheinlich stehen wir im Stau. Aber eine Grenze gibt es zum Glück nicht mehr.

Ost-West-Dialog

Ich bin bei meinen Großeltern in Lübben->Spreewald->Brandeburg->Osten aufgewachsen.

Mein Großvater starb 1992.
Zwei Jahre später klingelte an einem lauen Sommerabend unser Telefon, ein „Rudi“ wollte gern die „Christa“, also meine Großmutter sprechen. Nach dem folgenden 2-stündigen Telefonat stellte sich heraus, dass „Rudi“ der Jugendfreund meiner Großmutter war; man hatte sich aber bereits 50 Jahre nicht mehr gesehen – tatsächlich sind während der Flucht aus dem ehemaligen Ostpreußen die Familien von Rudi und Christa in verschiedene Teile Deutschlands gezogen, Rudi in den Westen und Christa eben in den Osten.

Meine Großmutter ist heute 82 Jahre alt und lebt seit 1994 zusammen mit ihrer Jugendliebe Rudi in einem kleinen Haus in Herzberg. Christa ist ein klassischer Ossi, Rudi ein perfekter Wessi.

Am Wochenende haben wir die Beiden besucht, dabei ist es uns mal wieder aufgefallen:
Die beiden haben jeden Abend ihren persönlichen „Ost-West-Dialog“ – seit nunmehr 16 Jahren. ;)