Judith Zehnder – „Dinge, die wir heute sagten“

Beginnen wir mit dem Titel. Er erhellt sich erst, wenn wir verstanden haben, dass die „Beatles“ sich wie ein rotes Band durch den Roman von Judith Zehnder ziehen: „Things we said today“ ist ein Titel der LP „A Hard Days Night“ aus dem Jahre 1964. Die Autorin wurde im Jahre 1980 geboren. Was verbindet sie mit den Beatles der 60er Jahre? Nun, sie ist studierte Anglistin, arbeitet als Übersetzerin – und hätte den Titel sicher eleganter übersetzen können.

Mit diesem fast 500 Seiten starken Buch, überaus geschwätzigen Buch katapultiert sich eine 30-Jährige, von der man bisher nie ein Zeile Prosa las, auf die „Shortlist“ für den „Deutschen Buchpreis“. Wie kommt die aus Anklam in Vorpommern stammende Judith Zehnder hierhin?

Begeben wir uns nach Bresekow, ein Ort „ziemlich genau im Zentrum des Nichts, das sich kurz hinter Berlin auftut und bis Rostock nicht aufhört“. Bresekow, das ist „JWD“, ein toter Ort mit nur einer „Dorfstraße“, lauter Langeweile. Nur das ehemalige Gelände einer LPG, die „Elpe“, dient als Treffpunkt der tief gelangweilten Jugend.

Erst als die alte Anna Hanske stirbt und ihre Tochter Ingrid aus Irland – wohin sie einem irischen Germanisten gefolgt ist, der, wie sollte es auch anders sein, über Uwe Johnson forschte, zurückkehrt, kommt Leben in den Ort. Sie hat als Einzige den Ort verlassen, als die Einzige studiert und wird in diesem plappernden Epos ostdeutscher Vorwendezeitgeschichte mit „Du“ angesprochen.

Als die „Mutti“  zum Geburtstag aus dem Westen ein flaches Paket erhält, befindet sich darin die neuste Beatles LP „Help“. Natürlich haben die Staatorgane dafür gesorgt, dass die Platte in zwei Teile gespalten ist. Der Versuch, sie mit „Kittifix“ wieder zu kleben,  schlägt fehl. Ein schönes Bild.

Viele Personen und Generationen bevölkern diesen Roman, und jeder erzählt ohne Punkt und Komma kakophone Geschichten aus seiner Ich-Perspektive. Wie entfesselt und völlig unreflektiert schadronieren plötzlich alle landsmannschaftlich eher als maulfaul bekannten vorpommerschen Dorfeingeborenen drauf los – vielleicht weil so lange nichts gesprochen wurde oder weil man so lange geschwiegen hat? „Das muss ja mal gesagt werden!“ Doch weh dem Leser, der kein „Platt“ versteht, denn die Altvorderen bedienen sich dieser Sprache, na wat seggst dootau?

In Ingrids Begleitung ist ihr Sohn Paul, von seiner Mutter benannt nach, ja nach wem wohl? Die siebzehnjährigen Dorfschönen Ella und Romy sind von dem gut aussehenden jungen Mann angetan. Die Jungs weniger, das gibt Kloppe.

Dass da in der Geschichte noch eine alte, verschwiegene Geschichte der Ingrid herumwabert, macht den Roman übrigens nicht spannender. Die Spannung ist eher nur schwach ausgeprägt in diesem Roman – aber das muss kein Makel sein im Literaturgeschehen, hören und lesen wir immer wieder aus literarisch berufenem Munde – und quälen uns auf der Suche nach der verlorenen Zeit auch noch durch den achten Band.

Der Leser kann den ungehörig plappernden Stimmen nur so entkommen, dass er das Buch gewaltsam zuschlägt oder den Kopf vom monologischen Stimmengewirr ermüdet ins Kopfkissen und sich in Morpheus Arme sinken lässt.

Dennoch gebührt der Autorin in ähnlicher und doch anderer Weise wie einem Walter Kempowski Respekt für die dokumentarische Fleißarbeit an diesem sammelsurischen Werk junger deutscher Geschichte.

Uwe Tellkamp – „Der Turm“

Hier findet man bei Bedarf das Podcast von „Wickerts Bücher“, in dem Ulrich Wickert hörenswert mit Uwe Tellkamp über sein preisgekröntes Buch „Der Turm“ spricht:

http://podster.de/episode/782930

Christa Wolf: Stadt der Engel

Christa Wolf erinnert sich in diesem (Hör-) Buch an ihren neunmonatigen Aufenthalt in Los Angeles in den Jahren 1992 und 1993. Auf Einladung der Getty Stiftung beschäftigt sie sich mit einem erzählerischen Projekt: Ihre verstorbene Freundin Emma hatte ihr Briefe einer gewissen L. vermacht, einer in den dreißiger Jahren nach Kalifornien emigrierten Psychoanalytikerin. Nicht einmal den vollen Namen jener L. kennt sie. Wolf begibt sich auf die Spurensuche.

Wir erleben eine ess- und trinkfreudige Autorin, die in einem Hotel mit dem passenden Namen „Ms. Victoria“ wohnt und Freundschaften mit ihren Mitbewohnern, Ko-Stipendiaten und einer Reihe deutsch-jüdischer Emigranten schließt.

Doch ist diese Zeit alles andere als unbeschwert: Die Autorin / Christa Wolf leidet am Bekanntwerden ihrer „Täterakte“. Als „IM Margarete“ war sie von 1959 bis 1962 bei der Staatssicherheit geführt worden. Zwar steht diese in keinem Verhältnis mit dem Umfang ihrer 42 Aktenordner umfassenden „Opferakte“, doch stellt sich die Frage „Wie hatte ich das vergessen können?“ Und dies ist der Kern des Buches: Eine quälende Selbstbefragung.

Der titelgebende Mantel Sigmund Freuds wird zum Bild dieser Befragung: Sein Schutz ist nur zu haben um den Preis völliger Entäußerung. Freud und die von ihm etablierte Psychoanalyse liefern Erklärungsansätze der menschlichen Fähigkeit zu vergessen und zu verdrängen.

Ihr Nachbar Gutman ist es, der das zweite Stichwort zum Romantitel liefert, den Verweis auf Walter Benjamins „Engel der Geschichte“, der unaufhaltsam vorwärtsgetrieben wird, auf die Katastrophen der Menschheit zurückblicken muss und nichts heilen kann.

Und so wandert denn auch die mit der Autorin auswechselbare Hauptfigur und Erzählerin durch lange Strecken von Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit noch einmal durch das 20. Jahrhundert. Daraus entstanden ist dieser aus verschiedenen, komplex verwobenen Erzählebenen des aktuellen Seins und der nicht abgeschlossenen Vergangenheit konstruierte und letztlich fälschlich als Roman deklarierte Text Christa Wolfs, der nichts weniger ist als der Versuch einer autobiographischen Vergangenheitsbewältigung – und der Suche nach (Selbst-) Vergebung.

Nachweislich bin ich selten ein Freund von Hörbüchern, die vom Autor selbst vorlesen werden. Und – kein Vertun – Christa Wolfs schleppende, wenig intonierende Vortragsweise und müde bis deprimierte, manchmal nuschelnde bis lallende Stimme macht es dem Hörer nicht leicht, sich neun CDs und 763 Minuten Hörzeit vorstellen zu können. Doch eben weil wir es hier mit Autobiographie zu tun haben, ist dies die einzige richtige, zum Zeitdokument gewordene Lösung, eine „oral history“, an der sich noch Generationen nach uns an deutscher Geschichte interessierte Menschen delektieren können.